Sylt ist bange angesichts der vielen Tourist:innen, die das 9‑Euro-Ticket auf die Insel spülen wird. Ob es aber zu einem Chaostag wie 1995 kommt, ist fraglich. Der gemeinsame Nenner ist bisher: Party
taz-Artikel
„Mit Billigticket zu den Reichen und Schönen: Sylt in Angst vor den 9‑Euro-Urlaubern“. Spätestens als die Zeitung mit den vier Großbuchstaben das Thema aufgriff, ist die linke Szene hellhörig geworden. Und erinnerte sich: 1995 gab es diese Diskussion schon mal. Im Februar hatte die Bahn ihr „Schönes-Wochende-Ticket“ eingeführt, für 15 Mark konnten bis zu fünf Menschen das ganze Wochenende durchs Land fahren. Und Tausende fuhren für einen Tagesausflug auch auf die Nordseeinsel.
Das war vielen Sylter:innen zu viel Billigtourismus. Westerlands Kurdirektor Peter Douven forderte die Abschaffung des Tickets, Rüdiger Freddrich vom Hotel- und Gaststättenverband forderte, die sechs Mark teure Kurtaxe schon am Bahnhof zu kassieren.
80 Autonome auf der Insel
Das machte die linke Szene auch damals schon hellhörig: Die „Strandguerilla Hamburg“ rief zum „politischen Chaostag“, rund 80 Autonome und Punks reisten an, zerlegten einen Bahnwaggon und wurden nach einem kurzen Marsch in Gewahrsam genommen. Anschließend hieß es von vielen Sylter:innen und in der Presse, die Schmähung von Tagestourist:innen sei eine unnötige Provokation gewesen, auch „Billig-Touris“ hätten ein Recht auf Sylt.
Heute organisiert sich der „Widerstand“ in den sozialen Medien: Auf Twitter, Telegram, Facebook und Reddit werden Ideen für organisiertes Chaos auf Sylt gesammelt. Aber wird das Neun-Euro-Ticket wirklich zum Sylter Déjà-vu?
„Auch heute schon zu den normalen Preisen sind diese Züge am Wochenende und bei gutem Wetter extrem voll“
Karl-Peter Naumann, Pro Bahn
Karl-Peter Naumann vom Fahrgastverband Pro Bahn erwartet eine höhere Auslastung der Regionalbahnen auf der Strecke nach Westerland. Von Hamburg nach Sylt müssen etwa drei Stunden eingeplant werden. Frühmorgens hin, spät nachmittags zurück. Da kommen für einen Tagesausflug nur zwei, drei Verbindungen infrage. „Auch heute schon zu den normalen Preisen sind diese Züge am Wochenende und bei gutem Wetter extrem voll“, weiß Naumann. Normale Preise, das sind von Hamburg aus momentan mindestens 7,70 Euro für ein Tagesticket, wenn man mit fünf Personen fährt. Das 9‑Euro-Ticket ist da noch einmal günstiger, es gilt ja für einen Monat und in allen 16 Bundesländern.
Überflutung unwahrscheinlich
Dass Sylt deshalb von Tourist:innen überflutet wird, ist aber unwahrscheinlich: Zu eng ist das Nadelöhr, die Strecke, auf der der Regionalexpress zwischen Hamburg und Westerland pendelt. Weitere Züge einzusetzen, das kommt aufgrund der eingleisigen Architektur der Strecke zwischen Niebüll und Klanxbüll nicht infrage.
Naumann hält das 9‑Euro-Ticket grundsätzlich zwar für eine gute Idee, „wie am Beispiel der Stadt Wien zu sehen, wäre es jedoch hilfreich, erst die Infrastruktur zu schaffen und dann die Nachfrage über günstige Preise zu erhöhen“. Die Bahn teilt auf taz-Anfrage mit, man habe in den vergangenen zwei Jahren rund 1,5 Milliarden Euro allein in die Erneuerung der Fahrzeugflotte im Regionalverkehr investiert. Sie sieht sich gut auf den erwarteten Andrang vorbereitet.
Kehr die Party nach Sylt zurück?
In einem Interview mit dem Schleswig-Holsteinischen Zeitungsverlag erklärte Peter Douven, heute Sylter Tourismuschef, vor einigen Wochen, den Tourismus über die Preisschraube regulieren zu wollen. Wie Urlaubsziele sozial gerecht gestaltet werden können, darauf wusste er keine Antwort. Bemerkenswert: Im selben Interview bemängelt er eine fehlende Toleranz auf der Insel. Er vermisse „Sylt als Party-Destination“.
Ob es also 27 Jahre nach dem Chaostag auf Sylt noch mal einen gibt, bleibt abzuwarten. Denn der kleinste gemeinsame Nenner in den sozialen Medien ist bislang: Party machen. Über politische Ziele der Aktion ist man sich indes noch uneins. Falls das Momentum der Bewegung bis dahin nicht verpufft ist, wollen einige auf jeden Fall Christian Lindners Hochzeit besuchen. Die soll am 7. Juli auf Sylt stattfinden.
Weniger Klassenkampf-Charakter, aber mehr Erholungsfaktor haben Karl-Peter Neumanns Alternativvorschläge. „Es gibt viele wunderschöne Regionen im Norden, die Fünf-Seen-Fahrt in Schleswig-Holstein, das Zwischenahner Meer oder die Müritzer Seenplatte, das sollte noch mehr beworben werden.“ Und wenn man dann in einem Regionalzug durch Mecklenburg juckelt und der Twitter-Shitstorm über proppenvolle Züge nach Westerland gleichmäßig wie die Landschaft vor dem Zugfenster an einem vorbeizieht, dann, ja dann ist Urlaub.
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